Vor 30 Jahren, am 15. November 1994, wurde das Benachteiligungsverbot mit im Grundgesetz verankert. «Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden», heißt es in Artikel 3 Absatz 3 GG. Was hat sich seitdem getan?
Nora Köhler ist Justitiarin und Bereichsleitung Recht & Sozialpolitik bei Anthropoi Bundesverband. In einem Kurz-Interview spricht sie darüber, wie das Benachteiligungsverbot die Situation von Menschen mit Assistenzbedarf bisher verändert hat – und wo noch Defizite bestehen.
Wie hat sich die Situation für Menschen mit Assistenzbedarf seit der Aufnahme des Benachteiligungsverbots ins Grundgesetz verändert?
N. Köhler: Die Situation für Menschen mit Assistenzbedarf hat sich insgesamt im Verhältnis von vor 30 Jahren sicherlich verbessert, beispielsweise durch besseren Zugang zu inklusiven (Bildungs-)Einrichtungen wie Kitas und Schulen, durch ein wenig mehr bauliche und digitale Barrierefreiheit und auch durch mehr Partizipation an politischen Prozessen.
Allerdings ist der Satz «Menschen mit Behinderung dürfen nicht benachteiligt werden» im Grundgesetz vom Gesetzgeber gewollt oder ungewollt unglücklich formuliert. Denn er hat nicht den Weg gewählt, den Staat ausdrücklich zu verpflichten, für gleichwertige Lebensbedingungen für Menschen mit und ohne Assistenzbedarf zu sorgen. Der Gesetzgeber hat nur das Verbot verankert, wegen einer Behinderung benachteiligt zu werden. Wenn die Einführung dieses Satzes die Verpflichtung des Staates, sich für gleichberechtigte Lebensverhältnisse einzustehen, mit sich gebracht hätte, wäre das ein positives Signal gewesen. Meiner Einschätzung nach ist es gut, dass es das Benachteiligungsverbot gibt, es hat aber bislang wenig Einfluss auf die Gleichstellung von Menschen mit und ohne Assistenzbedarf.
Wo sehen Sie in der Praxis weiterhin Defizite bei der Umsetzung des Benachteiligungsverbots, zum Beispiel in den Bereichen Barrierefreiheit, Bildung und Arbeitswelt?
N. Köhler: In der Praxis ist es meiner Ansicht nach sinnvoller, sich bei der gleichberechtigten Teilhabe, die Barrierefreiheit in jeglicher Form voraussetzt, auf die UN-Behindertenrechtskonvention, das Bundesteilhabegesetz sowie Teil 2 des Neunten Sozialgesetzbuchs zu stützen – anstatt auf Artikel 3 Absatz 3 im Grundgesetz.
Die Defizite bei der Umsetzung in allen Bereichen des Lebens sind unter anderem dem offenbar in der Praxis unglaublich schwer umzusetzenden Leistungserbringungsrecht geschuldet sowie dem «Totschlagargument» der leeren kommunalen Kassen. Dass hier Steuergelder nur umverteilt werden müssten, um eine gleichberechtigte Teilhabe zu ermöglichen, bleibt bei den Entscheidungsträgern leider ungehört. Die Defizit-Liste ist bedauerlicherweise sehr lang, angefangen bei der Barrierefreiheit. Damit ist nicht nur die bauliche Barrierefreiheit gemeint, sondern auch in Form von Kommunikation, digitaler Teilhabe, Barrierefreiheit in den Köpfen und vielem mehr. Hier wurde zum Teil schon etwas erreicht, aber die Hürden sind immer noch sehr hoch.
Der Bruch der Ampel-Koalition trägt außerdem zu einer weiteren Verschleppung wichtiger Gesetzesvorlagen bei, beispielsweise die Reform des Behindertengleichstellungsgesetzes, das 2. Gesetz zur Förderung eines inklusiven Arbeitsmarkts, das Inklusive Sozialgesetzbuch 8 oder auch ein diverses und barrierefreies Gesundheitswesen.
Was muss getan werden, um den rechtlichen Schutz und die gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Assistenzbedarf weiter zu stärken?
N. Köhler: Wichtige Voraussetzungen für eine Umsetzung eines gleichberechtigten Lebens von Menschen mit und ohne Assistenzbedarf sind eine gute Gesetzgebung, die Inklusion auf Bundes- und Landesebene als oberstes Ziel setzt sowie eine Umverteilung der Steuermittel, die vorzugsweise für Menschen verwendet werden sollten, die de facto in unserer Gesellschaft benachteiligt sind. Dazu gehören leider auch immer noch Menschen mit Assistenzbedarf. Unabdingbar ist auch die gesellschaftliche und politische Einsicht, dass Menschenrechte für alle Menschen gleichermaßen gelten, nicht verhandelbar sind und keiner Finanzierungsabhängigkeit unterliegen.
Das kann nur durch unermüdliche Appelle an die politischen Entscheidungsträger*innen, durch Rechtsprechung, Sensibilisierung, Empathie, Partizipation, Vielfalt und Inklusion von klein auf erreicht werden. Im Grundsatz bedarf es einen gesellschaftlichen Wandel, weg vom «Ich» und hin zum «Wir». Dafür braucht es neben Gesetzen und guter Rechtsprechung vor allem Menschen mit und ohne Assistenzbedarf, die aus Überzeugung dafür einstehen und bereit sind, viel Geduld mitzubringen und trotz aller Widrigkeiten weiterzumachen.