Menschen mit Assistenzbedarf: Selbstbestimmt und gemeinsam durch die Krise

Anthropoi Bundesverband erinnert zum Welttag der Menschen mit Behinderung am 3. Dezember 2020 an das Ziel der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen einer inklusiven und offenen Gesellschaft.

Menschen mit Assistenzbedarf waren in den vergangenen Monaten besonders von den Auswirkungen der Corona-Pandemie betroffen: Viele Menschen mit Assistenzbedarf gehören einer Risiko-Gruppe an und sind damit einer höheren Gefahr ausgesetzt, einen schweren Krankheitsverlauf im Falle einer Infektion mit dem Corona-Virus zu haben. Deshalb sind Schutz- und Hygienemaßnahmen sinnvoll und wertvoll, um Ansteckungen und schwere Krankheitsverläufe zu vermeiden.

Doch die Maßnahmen der vergangenen Wochen und Monate haben die Teilhabe- und Selbstbestimmungsmöglichkeiten von Menschen mit Assistenzbedarf deutlich stärker und härter eingeschränkt als die der Gesamtbevölkerung.
Zum Beispiel konnten viele Menschen mit Assistenzbedarf ihre nächsten Verwandten und Freunde wochen- oder monatelang nicht sehen und treffen. Besuchs-, Verlassens- und Kontaktverbote für ‚Heime‘ haben das persönliche Umfeld bis auf die engsten MitbewohnerInnen in den LebensOrten des anthroposophischen Sozialwesens und die dort tätigen MitarbeiterInnen und AssistentInnen stark eingeschränkt. Selbst LebensgefährtInnen konnten teilweise in dieser Zeit nicht getroffen werden! Diese Einschränkungen sind nicht gerechtfertigt. Menschen mit Assistenzbedarf sollten wie andere auch, unabhängig von der Wohnform, in der sie leben, ihr soziales und persönliches Umfeld – auch in der Corona-Pandemie – pflegen können. Die genannten Einschränkungen und Verbote können sich tief und einschneidend auf die psychische Gesundheit und das Selbstwertgefühl auswirken. Unsicherheit, Rückzug und Verängstigung können eine Folge davon sein.

Aber nicht nur in ihrem persönlichen Lebensumfeld waren Menschen mit Assistenzbedarf deutlich stärker eingeschränkt als viele andere Mitmenschen. Auch im Bereich der Teilhabe am Arbeitsleben waren sie von den Maßnahmen härter betroffen als andere: Home-Office-Möglichkeiten konnten nur selten eingerichtet werden. Dort, wo die Arbeit fortgesetzt werden konnte, fand sie häufig haus- oder wohngruppenbezogen in einem fremden Arbeitsbereich der Werkstatt statt. Viele Menschen mit Assistenzbedarf arbeiteten in dieser Zeit auch gar nicht – es fehlte also dieser wichtige Milieuwechsel. Beschäftigte außerhalb der Werkstatt für behinderte Menschen, die zum Beispiel einen Außenarbeitsplatz auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt haben, sind besonders gefährdet, ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Die bestehenden Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte in der Teilhabe am Arbeitsleben waren zeitweise wie ausgesetzt.

Auch im Bereich der Kommunikation und Information macht die Krise viele Baustellen offensichtlich: Es fehlt an individuellen digitalen Kommunikationsmöglichkeiten und einer entsprechenden funktionierenden Infrastruktur in vielen Städten und Gemeinden Deutschlands. Viele Menschen mit Assistenzbedarf haben keinen Zugang zu digitaler Kommunikation. Aber auch der Zugang zu allgemeinen Nachrichten und Informationen ist für sie schwierig und voller Barrieren. Oft erreichten sie deshalb die notwendigen Informationen nicht direkt: Schwere Sprache und schwer zu verstehende Zusammenhänge sind hier die Hürden. Obwohl inzwischen Informationen und Mitteilungen staatlicher Stellen immer auch für alle Menschen barrierefrei sein sollten, hat es lange gedauert, bis offizielle Stellen Informationen in Leichter oder Einfacher Sprache anbieten konnten. Selbstkritisch muss man aber auch sagen, dass in Einzelfällen Einrichtungen und Dienste der Eingliederungshilfe, darunter auch solche des anthroposophischen Sozialwesens, notwendige Informationen vor Ort ebenfalls nicht immer zeitnah und verständlich aufbereiten konnten. Es kam also auch hier zu Informationslücken und nicht alle Betroffenen waren immer gut eingebunden. Dies ist sicherlich eine Folge des enormen Arbeitspensums und des engen Zeitrahmens, in dem Maßnahmen intern umzusetzen waren, aber auch eine Folge des noch nicht vollzogenen Bewusstseinswandels hin zu einer inklusiven Gesellschaft. Inzwischen wurden diese Hürden in den Einrichtungen vielerorts behoben und es gibt sehr gute Informationen in Einfacher Sprache und nachvollziehbare Hygiene- und Schutzkonzepte, die sich bisher als praktikabel erwiesen.

Es ist ein Lernprozess für alle: Noch ist es in unserer Gesellschaft nicht selbstverständlich, inklusiv und barrierefrei zu denken und zu handeln. Die Krise bietet eine gute Gelegenheit, dies zu ändern! Jetzt gilt es, die Selbstbestimmungs- und Teilhaberechte von Menschen mit Assistenzbedarf wieder aufzunehmen und deren Selbstwirksamkeit und Selbstvertrauen aufzubauen. Nur gemeinsam und in gegenseitiger Achtsamkeit können wir als Gesellschaft durch diese Krise kommen. Dabei sind die wichtigen Stimmen, Erfahrungen und Meinungen von Menschen mit Assistenzbedarf gleichberechtigt in alle sie betreffenden Maßnahmen einzubinden. Das ist nicht nur ein Gebot der Menschenrechte, es ist auch sinnvoll und zielgerichtet, um die richtigen und geeigneten Maßnahmen zu treffen. Darüber hinaus führt dies zu einer höheren Akzeptanz der Maßnahmen: So, dass wir alle – trotz Krise – gut geschützt und im Krankheitsfall gut versorgt in einer offenen und inklusiven Gesellschaft zusammenleben können.

«Für mich war es schlimm, dass nicht nur die Arbeit, sondern auch alle laufenden Kurse vom Bildungszentrum (BIZ) abgesagt wurden, wie Kochkurs, Tanzen. Auch die Wochenendausflüge der offenen Bildungsangebote (OBA) haben mir gefehlt. Ich wusste nicht, was ich am Wochenende tun soll. Es hat sehr gutgetan, dass ich Telefonkontakt zur Werkstatt hatte und in die Notgruppe gehen konnte. Da habe ich als Werkstatt-Rat mitgeholfen, ein Hygienekonzept zu machen, damit wir alle wieder in die Arbeit können. Toll war auch, dass wir als Werkstatt-Rat am Projekt ‚KultTouren für Alle‘ weitergemacht haben. Da haben wir sogar ganz früh Arbeits- Exkursionen machen können! Das war echt super!»

Toni Munkert, Werkstatt-Rat, Goldbach Werkstatt Nürnberg

Fu__r_mich_war_es_schlimm.pdf
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